Willkommenskultur: Warum Deutschland keine hat
In Sachen Gastfreundschaft zieht die Türkei gnadenlos an Deutschland vorbei und lässt die deutsche Willkommenskultur trotz bravourös gemeisterter Fußball-WM in 2006 ziemlich blass aussehen! Zu behaupten, Deutschland hätte keine Willkommenskultur ist riskant – ich weiß. Das komplette Gegenteil zu vertreten grenzt wiederum ein wenig an Selbstüberschätzung. Also, versuchen wir’s mal mit ein paar kulturwissenschaftlichen Fakten.
Ein Blick in mein Zauberbuch der Selbstwahrnehmung „Die Deutschen – Wir Deutsche“ von Sylvia Schroll-Machl verrät: Deutschland gehört zu den sachorientierten Kulturen. Aha! Soll heißen, wir sind grundsätzlich eine auf Fakten ausgerichtete Gesellschaft. Das kann ich sowohl theoretisch als auch praktisch nur bestätigen. Auch in meinem deutschen Leben sind harte Fakten fast immer ausschlaggebend für wichtige Entscheidungen. Soziale Beziehungen, Erwartungen Anderer oder gar persönlichen Eitelkeiten sind zwar ganz… naja interessant… letztlich aber nicht sonderlich relevant. Oder? Der Fokus liegt auf Objektivität.
Es gibt ja auch immer nur eine Wahrheit, oder? In sachorientierten Kulturen, zu denen neben Deutschland unter anderem Nord- und Nordwesteuropa, die USA und Großbritannien gehören, ist die Sachlage richtungsweisend für das Handeln der Menschen. Klingt logisch. Für uns. Ist aber weniger gut nachvollziehbar für den Rest der Welt. Südamerika. Afrika. Asien. Arabischer Raum. Die alle sind nämlich beziehungsorientierte Kulturen.
Das Geheimnis: Sein Handeln an den Bedürfnissen Anderer ausrichten
Jedem, der sich schon mal damit beschäftigt hat, wie wir Deutschen von der Welt gesehen werden, dürfte aufgefallen sein, dass wir selten mit den Attributen warmherzig, locker oder humorvoll beschrieben werden (z.B. GIZ). Erschütternd nicht? Aber leider die logische Konsequenz unserer ausgeprägten Sachorientierung. Denn wer seine Entscheidungen an Zahlen, Daten, Fakten ausrichtet, versucht logischerweise auch danach zu handeln. Und sachlich zu kommunizieren. Sachzwänge aufzuzeigen. Sachlich zu kritisieren. Sachargumente anzubringen. All das ist ja legitim und zunächst einmal nicht zwingend als Unhöflichkeit gemeint. Trotzdem wirkt diese direkte Kommunikation häufig ziemlich schockierend, im besten Fall nur irritierend auf Menschen, die eher eine beziehungszentrierte Art des Miteinanders gewohnt sind.
Der „Rest der Welt“ kommuniziert implizit, also indirekt. Das Ziel einer Kommunikation ist es hier nämlich nicht unbedingt, die Fakten möglichst objektiv und sauber abzubilden. Primär geht es um einen möglichst harmonischen Umgang mit der sozialen Umwelt: um eine Kommunikation, die stets versucht, das Gegenüber wertzuschätzen. Gerade wenn es um Kritik geht, versteckt sich die eigentliche Botschaft daher auch gerne hinter einem bezaubernden Lächeln oder einer bunten Metapher. Mit indirekt kommunizierenden Kulturen ist es wie mit kranken Kindern: Ein Stück Zucker hilft die bittere Medizin zu schlucken. Für mich persönlich (trotz meiner langjährigen Erfahrung in Frankreich – einem Meister der impliziten) noch immer ein heikles Unterfangen. Ich behaupte mal, dass ich auch heute noch nicht ganz in der Lage bin, das Gesagte wirklich einwandfrei zu interpretieren.
Deutschland hat zwar keine Willkommenskultur, aber eine Vertrauenskultur
Im letzten World Values Survey antworteten kürzlich mehr als 35 Prozent der Deutschen auf die Frage: „Kann man den meisten Menschen vertrauen?“ mit JA. In der Türkei hingegen waren es kaum mehr als fünf Prozent aller Befragten. Demnach gehört Deutschland zu den Vertrauens- und die Türkei zu den Misstrauenskulturen (was in keiner Weise wertend gemeint ist). Fakt ist jedenfalls, dass Vertrauen in beziehungsorientierten Ländern, wie zum Beispiel der Türkei anders entsteht, als in unseren Breitengraden. Nehmen wir mal die Kriterien, nach denen in beiden Ländern Dienstleister ausgewählt werden: An Rhein und Elbe muss die Vertrauenswürdigkeit anhand von Zahlen, Daten, Fakten konkret bewiesen werden (Ausbildung, Referenzen, Erfolge, Umsatzzahlen – gerne auch schön bunt aufbereitet in PP mit viel Papier zum Nachlesen). Am Bosporus hingegen bevorzugt man eine persönliche Netzwerkempfehlung eines „Freundes“ (bezeichnenderweise gibt es im Türkischen kein eigenes Wort für „Kollege“). Kommt dann noch ein Mindestmaß an Sympathie und gemeinsame Interessen dazu, dient das bereits als hervorragende Grundlage der Zusammenarbeit. Hier wird wieder – wie auch in indirekten Kommunikation – die Beziehungsorientierung ganz deutlich: Man vertraut nicht den Zahlen, Daten, Fakten, die eine Person vorweisen kann, man vertraut – wenn überhaupt – ausschließlich der Person selbst. Papier ist schließlich geduldig.
Vetternwirtschaft und Klüngel in wunderbarer Reinform
Sozialer Erfolg basiert in beziehungsorientierten Kulturen wie der Türkei wesentlich auf einem guten Netzwerk. Eine schnelle Lösung von Problemen auch. Wer gute Beziehungen hat, bekommt gute Hilfe. Egal welches Problem ich bisher hatte: Irgendeiner kannte immer Irgendjemanden, dessen Bruder einen guten Freund hatte, der es lösen könnte. Manchmal sogar extrem schnell – wenn mein Kontakt es wirklich gut mit mir meinte. Und genau diese Funktionsweise macht die türkische Kultur extrem reaktiv. Alles ist möglich, und zwar innerhalb kürzester Zeit! Vorausgesetzt man kennt die richtigen Leute und hat bei denen einen großen Stein im Brett. Ist das nicht der Fall, tut sich nichts. Absolut nichts.
Denn wie ich es zum Beispiel auch in Frankreich erlebt habe, entstehen dort Verpflichtungen eben nicht unbedingt aus formellen Verträgen oder offiziellen Vorgaben, sondern aus persönlicher Verbundenheit. Und die muss ja erst einmal aufgebaut werden (mittels Vertrauen). Neben dem sozialen Rückhalt erfüllen diese persönlichen Netzwerke aber noch eine weitere Funktion. Nichts verbreitet sich in meiner großstädtischen Nachbarschaft am Bosporus schneller als eine spannende Neuigkeit. Denn der tägliche Smalltalk unter Freunden und Kollegen heißt nicht nur bei einer Tasse Tee belanglos vor sich hin tratschen. Nein, es ist der Marktplatz für Wissen! Ein wertvoller Moment um entscheidende Informationen zu sammeln – und gezielt zu streuen. Und das spürt man in allen, wirklich allen Lebensbereichen.
Ausnahmen sind die Regel
Kommunizieren und Handeln ist in der Türkei und den meisten Kulturen der Welt beziehungsorientierter. Wenn also die Person und nicht die Sache im Mittelpunkt des Handelns steht, ist die logische Konsequenz, dass auch Regeln und Vorschriften anders interpretiert werden, als in der deutschen Kultur. Nämlich individueller. Personenbezogener. Regeln bieten der Gesellschaft Sicherheit und machen Verhalten kalkulierbar. Wenn ich im Auto die Spur wechsle, blinke ich. Wenn ich die Straße überqueren möchte, warte ich auf Grün. Völlig klar. Tue ich das nicht, werde ich garantiert von irgendjemandem darauf hingewiesen, wie verantwortungslos ich bin – gerne begleitet von einem verachtenden Blick. Was für die deutsche Mentalität anmaßend und respektlos wirkt, ist fast überall die Normalität.
Auch im Ausland gibt es mindestens genauso viele Regeln und Vorschriften – wenn nicht sogar mehr. Allerdings hat man das Gefühl, dass diese lediglich als Orientierung, als Rahmen des sozialen Miteinanders dienen. Und genau das tun sie auch. Legt eine Kultur ihren Fokus eher auf Personen als auf Dinge, werden Vorgaben tendenziell eher der aktuellen persönlichen Situation des Betroffenen angepasst. Wenn die Vorgaben also in einer konkreten Situation keinen Sinn ergeben, entscheidet man sich für eine persönliche Interpretation derselben. Und das ist nicht verachtenswert, sondern äußerst legitim. Denn warum soll den irgendjemand auf dieser Welt an einer roten Fußgängerampel stehen bleiben, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist???
Die Autorin:
Constance Grunewald-Petschke betreibt den Blog www.what-about-my-pencilskirt.com, auf dem sie regelmäßig über ihr neues Leben als Expat-Frau in Istanbul berichtet. Sie ist außerdem Inhaberin der Agentur „Abroad [relocation.interculture.language]“, die Expats und ihre Familien berät.
E-Mail: c.grunewald@xpat-abroad.com
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