Erfahrungsbericht einer Expat-Frau: Über Rituale und Komfortzonen
Neulich Morgen in meinem Düsseldorfer Badezimmer während meiner Rituale: Nachdem ich meine halbstündige Joggingrunde – erfolgreich absolviert hatte und nun wohlduftend nach meinem Lieblingsduschgel und eingewickelt in mein Lieblingshandtuch aus der Dusche stieg, stellte ich entsetzt fest, dass meine Lieblingsgesichtspflege mit ihrem baldigen Ende zu rechnen hatte. Ein Schock!
Geistesgegenwärtig griff ich zu meinem iPad und öffnete die Amazon-App. Gott sei Dank: wie erwartet erscheint innerhalb weniger Millisekunden die Abbildung meiner heiß geliebten Gesichtspflege. Und dank Prime-Abo würde ein nigelnagelneues Döschen meines begehrten Pflegeproduktes bereits nach weniger als 36 Stunden mein Badezimmer verschönern.
Verrückt eigentlich, dass mich allein die drohende Abwesenheit eines geliebten Etwas – und sei es noch so banal – gelegentlich in unkontrollierte Panik versetzt! Mit gelegentlich ist in meinem Falle wohl der bevorstehende Umzug in ein Land der bisher undefinierbaren Kosmetika gemeint. Ich überlege, ob wohl ein Vorrat an 3-4 Packungen ausreichen wird um jegliche Mangelerscheinung vor Ort zu vermeiden. Oder welche Menge ich grundsätzlich so benötigen werde um auf Nummer sicher zu gehen und mich entspannt jeden Morgen pflegen zu können?
Komfortzone auf Vorrat, Rituale als Anker
Dieses Bedürfnis, sich eine Komfortzone auf Vorrat zu schaffen, habe offensichtlich nicht nur ich! Beinahe jeder meiner ausländischen Kunden, die ich in den letzten Jahren während ihres Settling-In in Düsseldorf betreut habe, hatte teilweise gefühlte Zehnjahresrationen irgendwelcher unnützer Dinge im Gepäck, bei denen man sich fragte, ob die Welt glaubt, dass es in Deutschland keine Supermärkte gäbe…
Nein, auch ich glaube wirklich nicht, dass es in Istanbul keine guten Gesichtspflegeprodukte zu erwerben gibt, im Gegenteil! Die Sache ist aber, dass es sich bei all diesen Dingen eben nicht nur um Produkte handelt. Es handelt sich um das, was wir mit diesen Produkten verbinden: Vertrautheit, Sicherheit, Wohlgefühl. Gewohnheiten, Routinen und Rituale bilden das Gerüst unseres Alltags: sie geben uns einen sicheren Rahmen, in dem wir uns bewegen und wohlfühlen können. Sie machen unser Leben einigermaßen planbar. Für meine Wenigkeit sind diese Rituale beispielsweise die morgendliche Bewegung im Grünen oder mein Gläschen spanischer Rotwein, das den Feierabend einleitet. Vor dem Hintergrund der türkischen Alkoholsteuer einerseits und der eher suboptimalen Laufumgebung zum Anderen, freunde ich mich gezwungenermaßen allmählich mit dem Gedanken an, diese Dinge zukünftig im besten Fall noch eingeschränkt erleben zu dürfen…
Verlust vertrauter Rituale kann destabilisieren
So flexibel ich auch sein mag, so leidenschaftlich ich Neues entdecke und ausgetretene Pfade verlasse: Der Entzug vertrauter Rituale und Gewohnheiten destabilisiert. Auch mich! Mit Verlassen des eigenen kulturellen und sozialen Umfeldes verlieren wir nämlich auch den sicheren Rahmen unserer Routinen, die im Zielland aus verschiedenen Gründen häufig einfach nicht realisierbar sind! Und damit überschreiten wir die Grenzen unserer Komfortzone in eine Welt ohne Rahmen und Struktur. Je vermeintlich fremder und andersartiger unser Zielland ist, desto weniger planbar – weniger komfortabel – wird zwangsweise unser Alltag aussehen. Und desto stärker ist unser Wunsch, vertraute Gewohnheiten und Symbole in das neue Leben zu übertragen. Denn wir wissen, dass genau diese Dinge – unsere Lieblingscreme, unser Lieblingsbier oder die morgendliche Joggingrunde – uns in einer unbekannten und fremden Welt Sicherheit und Stabilität geben werden.
Die Autorin:
Constance Grunewald-Petschke betreibt den Blog www.what-about-my-pencilskirt.com, auf dem sie regelmäßig über ihr neues Leben als Expat-Frau in Istanbul berichtet. Sie ist außerdem Inhaberin der Agentur „Abroad [relocation.interculture.language]“, die Expats und ihre Familien berät.
E-Mail: c.grunewald@xpat-abroad.com
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Fotos: © pashabo – Fotolia.com; C. Grunewald-Petschke