Zwei Jahre in São Paulo: Die unterschiedlichen Phasen eines neuen Lebens
Vor 727 Tagen oder auch 103 Wochen und sechs Tagen bin ich in São Paulo eingetroffen. Wie mein Mann, der 106 Tage zuvor in Deutschland gestartet war, ohne Look-and-See-Trip, ohne Kulturtraining und ohne nennenswerte Sprachkenntnisse.
Ich befand mich im wahrsten Sinne des Wortes im Honeymoon, denn wir hatten nur 26 Tage vor dem Abflug meines Mannes geheiratet. Dass ich mich auch rein wissenschaftlich gesehen in der Honeymoon-Phase befand, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Die erste Wissenschaftlerin, die sich 1951 mit dem Phänomen des Kulturschocks, der starken emotionalen Reaktion auf eine fremde Kultur, auseinandergesetzt hatte, war die aus New York stammende Anthropologin Cora DuBois.
Kalvero Oberg, ebenfalls US-Anthropologe, erweiterte diesen Begriff 1954 in einem Aufsatz, in dem er ein vier-Phasen-Modell einführte, das bis heute wissenschaftliche Anerkennung genießt. In diesem Modell (1. Honeymoon, 2. Krise, 3. Erholung und 4. Anpassung an die andere Kultur) vereinte Oberg erstmalig die Symptome des Kulturschocks mit dem Prozess der Adaption an die andere Kultur.
Zu Beginn der 1960er beschrieb der Wissenschaftler die vier Phasen, die während eines längerfristigen Auslandsaufenthaltes durchlaufen werden, schließlich detailliert.
Vier Phasen der Eingewöhnung
In der ersten Phase, der sogenannten honeymoon phase, werde die neue Umgebung als aufregend, positiv und stimulierend empfunden. Das „neue Leben“ und der neue Job würden durchweg positiv wahrgenommen.
Irgendwann, so heißt es, begänne die zweite Phase, der culture shock, wenn die Person mit fremdkulturellem Hintergrund merke, dass doch nicht alles so sei, wie sie es erwartet hatte, und bekannte Orientierungsmuster nicht mehr funktionierten. Oberg erklärt hierzu, dass dies mit einem allgemeinen Unwohlsein, aber auch mit Orientierungslosigkeit oder gar mit dem Hass auf alles Fremde einhergehen könne.
Die dritte Phase, die sogenannte recovery phase, sei gekennzeichnet durch einen Aufschwung: Der Betroffene finge an zu akzeptieren, dass er ein Problem habe, mit dem er sich auseinandersetzen müsse. Er sei nun bereit, Kompromisse einzugehen und seine übertriebenen Erwartungen an die Realität anzupassen.
Die vierte und letzte Phase könne als adjustment phase, Anpassungs-Phase, beschrieben werden. In dieser lernten die Menschen, trotz eines fremden Umfeldes, effektiv zu arbeiten, mit Einschränkungen zurechtzukommen, Dinge anders als gewohnt zu behandeln und somit flexibler mit Ungewohntem umzugehen.
Gemäß der anfänglichen Euphorie in der honeymoon phase, dem tiefen Fall während des culture shocks und dem anschließenden Aufschwung in der recovery und adjustment phase ist Obergs ursprüngliches Modell, das über die Jahrzehnte von zahlreichen Wissenschaftlern und Expat-Experten weiterentwickelt worden ist, als U-Kurve bekannt.
Kulturschock dauert sechs bis acht Monate
Eine der aktuellen Bearbeitungen des Obergschen Phasenmodells ist besonders interessant, denn neben der Hinzufügung einer weiteren Phase, der Mastery, gibt Chalre Associates, ein Management Recruiter für Südostasien, Richtwerte zur Dauer der einzelnen Phasen. So dauere die Honeymoon-Phase vier bis sechs Wochen. Der vorprogrammierte Kulturschock ziehe sich sechs bis acht Monate hin. Nach ein bis zwei Jahren sei die graduelle Anpassung vollzogen. Über zwei und bis zu vier Jahren brauche man, um eine grundsätzliche Kompetenz zu erlangen. Nach fünf bis sieben Jahren sollte sich schließlich ein tiefes Verständnis, die Mastery, eingestellt haben.
Andere, insbesondere deutschsprachige Quellen sind deutlich zurückhaltender mit entsprechenden Prognosen. Im ungünstigsten Fall, so ein Schweizer Karriereportal, könne die Honeymoon-Phase gar ausbleiben. „Der Expatriate sehnt sich vielleicht bereits unmittelbar nach seiner Ankunft nach dem Essen seines Landes, nach seiner Familie, seinen Freunden, ja selbst nach Dingen, die er vorher in seinem Herkunftsland nicht besonders mochte.“
Um den Übergang von der Phase der Krise zur Phase der Erholung zu beschleunigen bzw. zu erleichtern, rät das Karriereportal, sich zügig und intensiv für den neuen Lebensstil und das neue Umfeld zu interessieren. Auch der Austausch mit Personen, die ähnliche Erfahrungen durchlebt hätten, könne dabei helfen, den „Abgrund“ von einer Phase zur nächsten zu überwinden.
Nach sechs bis zwölf Monaten entwickelten die entsandten Mitarbeiter eine neue Routine und wüssten, was sie erwarte. Sie begännen, ihre Fähigkeit zur Problemlösung zu perfektionieren, um sich an die neue Kultur anzupassen. Damit gehe insgesamt eine positivere Haltung einher. Die Kultur des Gastlandes begänne für sie Sinn zu machen, die negativen Reaktionen nähmen ab.
Die Phase der Anpassung sei dann erreicht, wenn man sich aktiv am Leben der örtlichen Kultur beteilige und die Kultur des Aufnahmelandes nicht mehr nach den Normen des Herkunftslandes beurteile, sondern vielmehr basierend auf unterschiedlichen kulturellen Referenzrahmen, die man verinnerlicht habe.
Heute, nach eben genau zwei Jahren, bin ich froh, dass ich das alles nicht gewusst habe, dass ich ganz unbedarft in mein neues Leben aufgebrochen bin. So werde ich nie im Leben den Moment vergessen, als der Container eintraf. Sieben Umzugshelfer trugen Kiste um Kiste und einen unförmig verpackten Einrichtungsgegenstand nach dem anderen in das leere Apartment, während meine Freundin Tereza und ich Listen abhakten und den Containerinhalt den unterschiedlichen Zimmern zuordneten, was nicht unproblematisch war, da das Gros der Einrichtung meinem Mann, der sich zu diesem Zeitpunkt beruflich in Deutschland befand, gehörte und mir im Detail unbekannt war. Sicher, ich hatte die einzelnen Stücke bereits gesehen, doch völlig auseinandergenommen war die Identifikation nicht ohne. Der helle Wahnsinn, doch wir nahmen es mit viel Humor und ich lernte weitere wohnungsrelevante Vokabeln.
Im tagelangen Umgang mit dem Elektriker hatte ich bereits erste Kenntnisse in diesem Bereich erworben, denn der hatte sich als außergewöhnlich talentierter Gedanken- und „Gestenleser“ mit pädagogischer Neigung erwiesen.
Ich genoss meinen doppelten Honeymoon, der lange währte, erkunde mit großer Neugier und Begeisterung die Stadt und organisierte unser Leben nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Von kleineren und größeren Katastrophen, die ich zügig für mich abhaken konnte, abgesehen, war mein neues Leben ein ganz großes Abenteuer.
Das war es auch für meinen Mann, der allerdings mit weit größeren Herausforderungen konfrontiert war, denn er hatte als erster Deutscher die Niederlassungsleitung eines deutschen Unternehmens übernommen, das mit einem großen, nahezu ausschließlich brasilianischem Team hochspezialisierte zeitkritische Dienstleistungen für deutsche Klienten in Brasilien erbringt. Jeder deutsche Leser, insbesondere derjenige, der in Brasilien lebt, wird sich vorstellen können, dass bei ihm der Kulturschock schneller einsetzte. Doch er verlor seinen Humor nicht und ließ sich in schweren Phasen immer wieder von meiner Begeisterung für unsere neue Heimat anstecken.
Von der Erkenntnis des Sprachkenntnis-Schocks in São Paulo
Eine erste Phase des Haderns setzte bei mir im vergangenen Frühsommer, nach knapp anderthalb Jahren, ein. Ich erlitt weniger einen Kulturschock, als vielmehr einen Sprachkenntnis-Schock, denn meine Portugiesischkenntnisse hatten sich schlechter als erhofft entwickelt. Im Alltag kam ich großartig zurecht, doch da nun einmal Sprache mein berufliches Handwerkszeug ist, setzte eine leichte Verzweiflung ein. Die legte sich erst, als ich für mich akzeptierte, dass sich ein Sprachniveau, das mich in absehbarer Zeit dazu qualifizieren würde, auf meinem ursprünglichen beruflichen Niveau zu arbeiten, nicht erreichen ließ. Ich müsste mir also Nischen suchen, die ich auch fand.
Ein kollektives Hadern mit unserem neuen Land stellte sich bei uns während unseres vorweihnachtlichen Deutschlandbesuchs im November 2012 ein. Hätten wir die Wahl gehabt, wären wir bei unseren Familien und Freunden in der Heimat geblieben, denn Bindungen dieser Qualität hatten wir nicht. Trotzdem sind wir tapfer zurückgekehrt.
„Ich habe das Gefühl, Brasilien gibt gerade alles, um Dein Herz wieder für sich zu gewinnen“, erklärte Tereza vor einigen Wochen. Auch mich hatte dieser Gedanke gestreift, denn in den vergangenen Wochen sind wirklich erstaunliche Dinge geschehen. Nicht zuletzt sind zwei meiner Lieblingsprodukte im brasilianischen Handel angekommen…
São Paulo ist eine großartige, dynamische Metropole, Brasilien eine beeindruckendes Land, das uns eine gute Heimat auf Zeit ist. Wie lange dies so sein wird, steht in den Sternen. Es bleibt aufregend.
Die Autorin:
Esther K. Beuth-Heyer (45) ist freie Journalistin und PR-Expertin. Sie lebt mit ihrem Mann seit Februar 2011 in São Paulo und schreibt eine regelmäßige Kolumne über ihren Auslandsaufenthalt.
São Paulo -Berlin – Bayreuth oder die Frage nach der Heimat
Filmtipp: Leben und Lieben in São Paulo
Buchtipp: São Paulo ungeschminkt
Foto: © Cifotart – Fotolia.com