Wie sich ein Kulturschock anfühlt
Er ist kein Mythos. Keine Geschichte von irgendwelchen verkorksten Urlaubern, die glauben, nur weil im Sangria weniger Orangen sind als daheim, erleben sie gerade den “Kulturschock” ihres Lebens. Nein! Der Kulturschock (culture shock) ist ein wissenschaftlich erforschtes und anerkanntes Phänomen der interkulturellen Kommunikation. Er wurde erstmalig in den 50ern von Cora DuBois (US-amerikanische Anthropologin) definiert und beschreibt den Verlauf des menschlichen Anpassungsprozesses an ein fremdkulturelles Umfeld. Kulturschock ist also kein persönliches Fehlvermögen, sondern eine vollkommen normale Reaktion auf eine unbekannte und fremdartige Umgebung.
Sagen wir’s mal so: das Kulturschock-Thema ist ein bisschen wie ein lästiger Lippenherpes:
1.) Man kann absolut NICHTS dagegen tun.
Natürliche Immunität ist äußerst selten bis unmöglich. Und das fiese Zeug kommt immer wieder – gerne dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann.
2.) Ist er einmal da, will man ihn selbstverständlich so schnell wie möglich wieder LOSWERDEN!
Er tut weh und nervt und ist irgendwie auch nicht sexy. Lästig! Ach, übrigens: selbst hartgesottene Dauer-Expats erleben ihn in jedem Zielland immer wieder auf’ s Neue. Lediglich Dauer (wenige Monate bis zu >1 Jahr) und Intensität der Anpassungsphasen hängen stark von den betroffenen Personen ab. Je bewusster ihr euch über Struktur und typische Auswirkungen des Kulturschocks seid, desto höher ist die Chance, ihn ohne blaue Flecken zu überstehen.
Gefühle & Co.
Durch Veränderung verliert man zwangsläufig etwas Vertrautes. Ob man will oder nicht, da gibt es leider nichts dran zu rütteln. Zunächst bedeutet ein Umzug ins Ausland neben vielen super spannenden und interessanten Abenteuern aber auch den Verlust der physischen Umgebung (Wohnraum, Einrichtungen, Nahrungsmittel…) und des soziales Umfeldes (Verhaltensmuster, Normen, Rituale…). Dieses Verlustgefühl ist konzentriertes Adrenalin für unsere Psyche: sie ist hellwach um auf alle Eindrücke postwendend zu reagieren: mit Verwirrung, Angst, Ablehnung, Frustration und vielen weiteren Gefühlen, die ich in meinem Blog en Detail unter die Lupe nehme.
Symptome des Kulturschocks
Was dem Herpes Simples das Jucken, Brennen und Schmerzen, sieht beim Kulturschock schon wesentlich komplexer aus. Zum Einen wird beispielsweise häufig über ein gesteigertes Sauberkeitsbedürfnis, z.B. häufiges Händewaschen berichtet. Das ist noch eins der angenehmeren Symptome und hat ja auch seine Vorteile… Typische Erscheinungen sind u.a. ausgeprägtes Heimweh und erhöhtes Schlafbedürfnis, Misstrauen und eine geringe Toleranzgrenze gegenüber dem Fremden, mangelndes Selbstvertrauen, Einsamkeit bis hin zur Isolation. Und als ob das Ganze nicht genug wäre, kommen on top gerne noch Kontrollverlust und Depression. Weitere mögliche Symptome wie plötzlich auftretende Unverträglichkeiten oder Allergien runden das Paket dann perfekt ab. Wenn das mal keine Ansage ist! Übrigens: 20 bis 40 Prozent der Entsendungen werden vorzeitig abgebrochen. Viele dieser Abbrüche sind die Folge des Kulturschocks eines oder mehrerer Familienangehöriger. Kein Grund zur Sorge, ihr gehört nicht dazu – ihr müsst nur den Blog lesen!
Aus wissenschaftlicher Perspektive gibt es verschiedene Verlaufsmodelle, die sog. “W-Kurve” ist nach meiner Meinung und Erfahrung das umfassendste Modell, welches neben dem Kulturschock im Zielland auch die Heimkehrphase betrachtet (Re-entry Schock). Denn macht Euch nichts vor: nachdem ihr euch letztendlich an die Fremde gewöhnt habt, müsst ihr euch bei eurer Heimkehr auch erst wieder an das vermeintlich Vertraute gewöhnen.
Die emotionale Achterbahn
Es handelt sich hierbei im Übrigen um eine idealtypische Kurve. Der tatsächliche Verlauf kann natürlich individuell abweichen: bestimmte Phasen können z.B. übersprungen und sogar wiederholt erlebt werden. Die Dauer der Phasen ist stark personenabhängig.
1. Alles super! Die HONEYMOON-Phase. Freude, Euphorie und Interesse am Exotischen. Hohe Erwartungen an das neue Umfeld.
2. Ach Du Schande! Die SHOCK-Phase. Erste Verständigungsschwierigkeiten treten auf und werden als eigenes Unvermögen interpretiert. Irritationen werden zu Frustration, die sich zunehmend in Schuldzuweisungen an die fremde Kultur wandeln. Überbewerten der eigenen Kultur. Krise und ggf. Abbruch des Aufenthaltes.
3. Am Ende des Tunnels ist noch Licht! Die RECOVERY-Phase. Erfahrungen werden relativiert und eigene Erwartungen der Realität angepasst. Andersartigkeit der Fremdkultur wird akzeptiert, interkulturelle Missverständnisse erkannt.
4. Alles wird gut! Die ADAPTION-Phase. Vorteile kultureller Unterschiede werden geschätzt und teilweise übernommen. Integration in das fremdkulturelle Umfeld.
5. Home sweet home! Der RE-ENTRY Schock. Wiederholung der Phasen 1-4 bei Rückkehr ins Heimatland.
Prävention
Verhindern kann man den Kulturschock nicht! Aber Wissen ist auch in der Fremde Macht. Und wer weiß, dass ihn der Schock ereilen wird, ist schon mal einigermaßen vorbereitet. Wer sich zudem vorab schon mit den kulturellen Besonderheiten des Ziellandes (Verhaltensnormen, Kommunikationsstil, Zeitmanagement usw.) beschäftigt, ist sogar richtig gut gerüstet.
Die Autorin:
Constance Grunewald-Petschke betreibt den Blog www.what-about-my-pencilskirt.com, auf dem sie regelmäßig über ihr neues Leben als Expat-Frau in Istanbul berichtet. Sie ist außerdem Inhaberin der Agentur „Abroad [relocation.interculture.language]“, die Expats und ihre Familien berät.
E-Mail: c.grunewald@xpat-abroad.com
Wie man den Kulturschock vermeidet
Willkommenskultr: Warum Deutschland keine hat
Ausstellung über Deutschland als Einwanderungsland
Erfahrungsbericht: Homefinding Horror
Expat-Bericht: Auf nach Istanbul
Mit der Roadmap für Onboarding im Ausland ankommen
Was es heißt, eine Expat-Frau zu werden
Foto: Abroad [relocation.interculture.language]