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Schüleraustausch mit China: Was deutsche Schüler dort lernen können

Schüleraustausch mit China – muss das wirklich sein? Geht es nicht noch weiter weg? Lohnt das? Was sollen unsere Schüler denn dort lernen? Die Kinder sind doch erst 16 oder 17 Jahre alt. Diese und ähnliche Fragen stellen sich vielen Eltern.

Ich könnte jetzt viel Kluges darauf antworten, auf die wachsende wirtschaftliche und politische und geostrategische Bedeutung Chinas eingehen, darauf verweisen, dass die deutsche Wirtschaft zu einem großen Teil von der Chinas abhängig ist und dass deutsche Wirtschaftsmagnaten immer wieder die fehlende China-Kompetenz deutscher Schulabsolventen beklagen. Aber das will ich nicht. Ich möchte vielmehr an einem ganz einfachen Beispiel erzählen, wie und was Schülerinnen und Schüler in China lernen.

Schauen Sie sich bitte das Bild an: Es zeigt Schülerinnen und Schüler des Bernhard-Riemann-Gymnasiums in Scharnebeck (bei Lüneburg gelegen) mit ihren chinesischen Partnerschülern vor der Middle School No 12 in Wenzhou in Südost-China:

Schueleraustausch_China

Fällt Ihnen was auf? Nein? Dann schauen Sie noch mal ganz genau. Achten Sie auf die Gesichter. Haben Sie es jetzt bemerkt? Alle chinesischen Schülerinnen und auch Schüler tragen eine Brille. Nun, mir war es auch nicht aufgefallen, bis eine Schülerin bei dem allmorgendlichen Treffen vor dem Schulgebäude, bei dem die Erlebnisse und Erfahrungen des Vorabends in den chinesischen Familien ausgetauscht wurden, bemerkte: „Komisch, alle unsere Partnerschüler haben eine Brille.“ Darauf Felix, groß, schlaksig, intelligent, schlagfertig und vorlaut, sofort: „Klar, einige tausend Jahre Schlitzäugigkeit – das schlägt auf die Dioptrien!“ Während sich Felix dankbar und stolz die bewundernden Blicke der schmunzelnden Mädchen abholte, wollte ich erst einwerfen, dass man nie von einer Korrelation auf eine Kausalität schließen dürfe, verzichtete dann aber auf diese wissenschaftspropädeutische Belehrung und machte das, was Lehrer in solchen Situationen immer machen: Sie nutzen die Situation und stellen Arbeitsaufträge: „Ihr fragt bitte heute Abend eure Partnerschüler beziehungsweise die Gasteltern, was Brillen in China kosten, ob es von den Krankenkassen Zuschüsse gibt und vor allem, ob es überhaupt Krankenkassen gibt. Yvonne, schreibe bitte die Arbeitsaufträge auf. Sonst hast Du doch bis heute Abend wieder alles vergessen. Also: Gibt es Krankenkassen? Wie hoch sind die Beiträge, wonach richten sich die Beiträge? Gibt es Unterscheide zwischen gesetzlich und privat Versicherten?“

Am nächsten Morgen, wieder vor dem Schulgebäude (Yvonne: „Ich habe meine Gasteltern gefragt, ehrlich, und auch alles aufgeschrieben, aber ich hab‘ den Zettel vergessen“), wurde sehr schnell deutlich, dass ein Großteil der chinesischen Schülerinnen und Schüler, die eine Brille tragen, eigentlich gar keine benötigten. Mindestens die Hälfte unserer Partnerschüler trugen Brillen, um besser auszusehen, um aufzufallen, um sich von anderen zu unterscheiden.

Chinas Schüler sehnen sich nach Individualität

Weitere Arbeitsaufträge, weitere Gespräche mit den Partnerschülern und weitere morgendliche Treffen vor dem Schulgebäude machten deutlich: Die chinesischen Schülerinnen und Schüler beklagten die Eintönigkeit in der Schule, die langweilige Schuluniform, die keine Individualität zulasse, das Verbot, Schminke aufzutragen, und einen Unterricht, der nur wenig Abwechslung biete. Felix: „Klar, ich habe in der ganzen Woche noch nicht einmal erlebt, dass die Schüler miteinander diskutieren. Sie sitzen nur da, werden vollgelabert, müssen alles mitschreiben und dürfen das dann zu Hause alles auswendig lernen. Da würde ich mir auch ‘ne Brille aufsetzen, und zwar eine mit ganz dunklen Gläsern.“ Ständig hätten die chinesischen Schülerinnen und Schüler das Gefühl, sich anpassen zu müssen, und so nutzen sie eben auch in der Schule, die die meiste Zeit des Tages in Anspruch nimmt, jede Gelegenheit, um wenigstens etwas Individualität zu zeigen: Bei der Auswahl des Schulrucksacks, bei der Auswahl der Schuhe und eben der Brillengestelle, die zum Teil dann allerdings nur Fensterglas umklammern.

Auf dem Rückflug: Sieben Stunden Aufenthalt in der Flughafenhalle von Dubai. Die Schüler sitzen auf dem Boden, etwas müde, doch lassen sie wenige Stunden vor der Ankunft daheim Erinnerungen und Erfahrungen der letzten zwei Wochen lautstark Revue passieren. So berichteten sie, dass die Eltern in Deutschland sich wohl mehr Zeit für ihre Kinder nehmen als in China, dass die Kinder in den chinesischen Familien sehr angepasst seien und die Eltern auf Statussymbole – großes Auto, großer Fernseher, große und wuchtige Möbelstücke – großen Wert legen, dass die Kinder kaum Freizeit hätten (lange Schulzeiten bis 17 Uhr, in den Abschlussklassen auch häufiger bis 19 Uhr, Nachhilfe nach der regulären Schulzeit und auch am Wochenende), und natürlich waren auch Brillen aus Fensterglas wieder Thema. Yvonne: „Aber dieses Fensterglas, dieses Bedürfnis nach Individualität, das passt doch gar nicht dazu, was wir im Unterricht gelernt haben, das passt doch nicht zur konfuzianistischen Tradition, zur Anpassung, zur Harmonie, zur Einordnung und zur geforderten Unterordnung.“ Und Felix überlegte laut, ob sich das chinesische Einparteiensystem noch lange halten könne, wenn es gleichzeitig ein solches Bedürfnis nach Einzigartigkeit, nach Individualität, nach Andersartigkeit gebe. Yvonne: „Das hat damit nichts zu tun. Die Eltern interessieren sich doch gar nicht für Politik, das ist denen doch egal. Wir wissen doch besser Bescheid über das politische System in China als unsere Partnerschüler.“

Wenige Stunden später auf dem Flug nach Hamburg: Zwei Schülerinnen sitzen vor mir, die – als Zeitvertreib – das Bedürfnis der chinesischen Schülerinnen und Schüler nach Individualität aufgriffen und kichernd und fröhlich mit einem Kugelschreibern auf einem Spiralblock eine erste Geschäftsidee für neue Produkte in China entwerfen: Große und breite Hüte (die Schülerinnen hatten bemerkt, dass die Chinesen ihr Gesicht gerne vor Sonnenstrahlen schützen und nicht braun werden möchten) mit einem kleinen quadratischen Kunststoffaufsatz, wie man sie von Ikebana-Arrangements her kennt, die man individuell mit Kunststoffblumen, Schleifen, kleinen Fähnchen und anderem Nippes bestücken kann. Und Felix, auf der anderen Seite des Gangs, hatte schon den Auftrag erhalten, einen Namen für den neuen „individuellen Sonnenschutz“, einen verkaufsfördernden Namen zu finden.

Ich schloss die Augen, zufrieden und stolz auf Felix, Yvonne und die anderen, und in dem sicheren Gefühl, dass meine Schüler eigenständig gelernt und Erfahrungen gesammelt haben, dass sie erste Schritte auf dem Weg zur „China-Kompetenz“ gemacht haben: Ein Schüleraustausch mit einer chinesischen Schule lohnt!

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Der Autor:

Dr. Heino Rüschenschmidt ist Studiendirektor am Bernhard-Riemann-Gymnasium in Scharnebeck und verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, Sponsoren für den China-Austausch seiner Schule zu finden.

Kontakt: rs@brgs.de

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