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„Kein Schnitzel zu Weihnachten“

Vor 27 Jahren kam die heutige Flugzeug-Ingenieurin Sayeh Reinert nach Deutschland. Wie sie in Deutschland Fuß fasste und wie sie ihre ersten Weihnachtsfeste erlebte, beschreibt sie in unserem Interview.

EXPAT NEWS: Wann und aus welchem Grund sind Sie mit Ihrer Familie aus dem Iran nach Deutschland gekommen?

Reinert: Das war im November 1987 und der Hauptgrund war die islamische Revolution wenige Jahre zuvor. Es herrschten kriegsartige Zustände und insbesondere mit den Frauenrechten ging es bergab. Meine Mutter wollte mir und meiner kleinen Schwester ein besseres Leben in Freiheit ermöglichen. Wir sind dann zunächst in die Türkei geflohen, wo wir etwa zweieinhalb Monate blieben und dann kamen wir mit einem gefälschten Visum nach Deutschland. Eigentlich wollten wir dort nur auf der Durchreise bleiben und nach Kanada zu meinem Onkel auswandern, aber dann gefiel es uns in Deutschland doch recht gut.

EXPAT NEWS: Was waren Ihre ersten Eindrücke von Deutschland?

Reinert: Als politische Flüchtlinge kamen wir zunächst in ein Asylantenheim in der Nähe von Frankfurt unter. Natürlich ist das keine schöne Umgebung. Aber ich erinnere mich, dass aufgrund der Weihnachtszeit alles so schön geschmückt und beleuchtet war. Die Menschen waren alle sehr gut gelaunt und freundlich. Wir hatten große Vorurteile über die Deutschen. Es hieß immer, sie seien unterkühlt, ausländerfeindlich und hätten keine Achtung vor Sitten und Moral. Umso überraschter war ich, dass diese Eigenschaften nicht zutrafen. Ich fühlte mich auf Anhieb wohl und sagte zu meiner Mutter, dass ich in Deutschland bleiben will.

EXPAT NEWS: Wie war Ihr erstes Weihnachten in Deutschland?

Reinert: Das war schlimm, denn da waren wir in einem Asylantenheim in Braunschweig. Ich erinnere mich, dass es überall furchtbar dreckig war. Meine Schwester und ich wollten nicht einmal mehr auf die Toilette gehen, weil wir uns so sehr geekelt haben. In dem Heim waren sehr viele unterschiedliche Nationen, viele Kurden und Albaner. Wir fühlten uns unsicher.

Oriental ornamented textile closeup.

Foto: © homydesign- Fotolia.com

EXPAT NEWS: Wann haben Sie die deutsche Weihnachtstradition übernommen und wie kam es dazu?

Reinert: Schon in den darauffolgenden Jahren. Aber dazu muss ich etwas ausholen. Wir waren zunächst sehr froh, in Braunschweig gelandet zu sein, wo wir eine kleine Wohnung fanden. Allerdings entpuppten sich die Anwohner unserer Straße als sehr ausländerfeindlich. Auch auf der Schule hatte ich es nicht leicht. Aufgrund meiner schlechten Deutschkenntnisse musste ich ein halbes Jahr aussetzen. Schließlich kam ich in die neunte Klasse einer Realschule. Die Zeit dort war wirklich schlimm, denn ich wurde beschimpft, bespuckt und war sehr einsam. Meine Mitschüler waren sehr gemein zu mir und weil ich kaum Deutsch sprach, fiel es mir schwer, mich zu wehren. Damals wollte ich unbedingt in den Iran zurück. Die schlimme Phase endete etwa zu den Osterferien. Eine Lehrerin, Frau Nagel, nahm sich unserer Familie an. Ihre Tochter war in meinem Alter und wir beide schlossen Freundschaft.

Durch die Familie Nagel kam ich in eine evangelische Jugendgruppe, in der ich Kinder aus Bildungshaushalten kennenlernte. Ich habe sofort gemerkt, dass diese viel weltoffener sind. Es waren Menschen, die über den Tellerrand blicken konnten und mich verstanden. Ich bekam Anerkennung und Unterstützung von ihnen. Die Familie Nagel nahm mich zu Konzerten und in die Oper mit; durch sie wurde ich praktisch integriert und auch mein Deutsch verbesserte sich deutlich.

„Ich wollte unbedingt aufs Gymnasium“

EXPAT NEWS: Wie lief es dann in der Schule?

Reinert: Ich wollte ja unbedingt aufs Gymnasium. Also habe ich gepaukt, was das Zeug hält. Ich erinnere mich daran, wie mein Bio-Lehrer mal vor einer Klausur sagte: „So liebe Schüler, nun gebt euch mal Mühe. Nicht, dass ihr am Ende noch schlechter seid als unser ausländischer Gast.“ Tatsächlich schrieb ich eine 2+ und danach hat der Lehrer nie wieder etwas Abfälliges über mich gesagt. Nach der zehnten Klasse folgte dann der Wechsel aufs Gymnasium. Mein Umfeld stimmte und ich engagierte mich ehrenamtlich in einem Weltladen, wo wir Fair-Trade-Produkte verkauften.

EXPAT NEWS: Wann haben Sie schließlich erstmals richtig deutsche Weihnachten gefeiert?

Reinert: Das muss 1989 gewesen sein. Meine Mutter und Schwester waren verreist und ich hatte mich bereit erklärt, zu Hause zu bleiben und auf unsere Katzen aufzupassen. Das bekam Familie Nagel mit. Sie waren ganz entsetzt und sagten, das arme Mädchen könne doch nicht zu Weihnachten ganz alleine daheim bleiben. Also holten sie mich ab und ich feierte mein erstes typisch deutsches Weihnachtsfest. Auch den Jahresbeginn haben wir gemeinsam zelebriert, indem wir uns das Stück „My Fair Lady“ im Theater ansahen. Jedenfalls appellierte die Familie Nagel an meine Mutter und meinte, Kinder bräuchten einmal im Jahr ein großes Fest, auf das sie sich freuen können. Also feierten wir 1990 unser erstes Weihnachtsfest zuhause mit einem Plastikbaum, der aber nach wenigen Jahren in eine schöne, echte Tanne getauscht wurde. Außerdem gab es ein festliches Essen, Ente oder Gans, das weiß ich nicht mehr genau. Letztes Jahr schlug meine Mutter allen Ernstes vor, dass wir zu Weihnachten ein schönes Schnitzel braten könnten. Da waren wir ganz empört und haben sie überzeugt, etwas Festliches zuzubereiten.

EXPAT NEWS: Gibt es ein persisches Äquivalent zu Weihnachten?

Reinert: Ja, das ist tatsächlich heute, vom 21. auf den 22. Dezember. In Persien feiern wir „Yalda“. Damit zelebrieren wir die längste Nacht des Jahres beziehungsweise eigentlich die Geburt des Lichts. „Yalda“ bedeutet Geburt. Ich erinnere mich an ein Yalda bei meinen Urgroßeltern. Diese hatten ein großes Haus, in dem es an Yalda sehr kalt war. Bei diesem Fest des Lichts speisen alle von einem geschmückten viereckigen Tisch, auf dem eine schöne Decke liegt. Unter der Decke hatten meine Urgroßeltern Heizlampen geschoben, so dass wir uns alle ganz dicht um den Tisch kauerten und unsere Beine an der Heizung wärmten. Zu essen gab es Granatäpfel, Nüsse und Obst; dazu tranken wir heißen Tee.

Yalda

EXPAT NEWS: Welche typisch deutschen Eigenschaften schätzen Sie und welche nerven Sie besonders?

Reinert: Ich mag die Direktheit der Deutschen. Da weiß man immer, woran man ist. Die Perser sind da irgendwie zu kompliziert und oft übertrieben höflich. Und ich mag die deutsche Pünktlichkeit. Was mir nicht so gut gefällt – und ich will keinesfalls alle über einen Kamm scheren – ist eine gewisse Kleinkariertheit. Deutlich wird dies beispielsweise bei der Griechenlanddebatte. Oft wird extrem pauschal verurteilt, ohne hinreichend zu differenzieren und sich mit den Hintergründen zu befassen.

EXPAT NEWS: Was ist typisch persisch an Ihnen?

Reinert: Das ist schwierig, denn eigentlich fühle ich mich unter Deutschen sehr deutsch. Mein Mann würde aber sagen, dass die persische Höflichkeit und Gastfreundlichkeit noch stark in mir steckt. Wir nennen das „tarof“. Ein Beispiel: Wenn mich etwa eine persische Freundin nach einem langen Abend nach Hause fährt, würde ich sie in jedem Fall noch auf einen Tee hineinbitten, auch wenn ich eigentlich todmüde bin und nur noch ins Bett will. Wenn ich allerdings länger im Iran bin, bekomme ich schon manchmal den Hinweis, nicht zu direkt zu sein. Also scheint dann doch meine deutsche Identität ab und an durchzukommen.

EXPAT NEWS: Vermissen Sie den Iran?

Reinert: Dort zu leben, kann ich mir nicht mehr vorstellen. Ich habe eine Familie und mein zu Hause ist Norddeutschland. Aber neulich bin ich nach Indien geflogen und als ich aus dem Fenster blickte und den Iran sah, hatte ich schon ein starkes Gefühl von Heimweh.

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