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»Seid weniger Deutsch!«

Warum er sich in Großbritannien heimischer fühlt als in Deutschland und welche gravierenden kulturellen Unterschiede  es zwischen den Menschen beider Länder gibt, hat uns der Wahl-Londoner Timo Dobrowolski erzählt.

EXPAT NEWS: Sie sind nicht nur Auswanderer, sondern auch ein Held!

Dobrowolski: Ich würde mich nicht als Held bezeichnen, falls Sie auf das Feuer anspielen.

EXPAT NEWS: Sie haben drei Kinder aus einem brennenden Haus gerettet. Was war passiert?

Dobrowolski: Ich saß nachmittags in einem Pub in meiner Nachbarschaft hier in London und trank eine Tasse Kaffee, als jemand in den Pub kam und rief, dass es brennen würde. Ich lief raus und sah, dass ein chinesischer Imbiss mit tiefschschwarzem Rauch gefüllt war. Im oberen Stockwerk über dem Feuer sah ich eine hilflose Babysitterin mit drei Kindern. Also hielt ich einen LKW an, der eine Leiter dabei hatte. Zeitgleich hatten in der Nähe arbeitende Bauarbeiter eine Leiter gebracht und diese an die Häuserwand gelgt. Dann habe ich zunächst das Baby und dann nacheinander die anderen beiden Kinder und die Babysitterin rausgeholt. Es war völlig selbstverständlich für mich, sofort zu helfen.

EXPAT NEWS: Sie leben seit Mitte 2005 in Großbritannien. Was hat Sie dorthin verschlagen?

Dobrowolski: Im Grunde die Angst vor Arbeitslosigkeit. Ich habe in Hamburg Sozialpädagogik studiert und danach zwei Jahre in der Psychiatrie gearbeitet. Ich wollte aber lieber als Sozialarbeiter tätig sein, allerdings hat Deutschland eher zu viele als zu wenige davon. Großbritannien hingegen leidet an einem Mangel an Sozialarbeitern und sucht deshalb verstärkt im Ausland nach Fachkräften. Die deutsche Sozialpädagogik ist im Vereinigten Königreich überaus anerkannt, so dass ich mir sehr gute Chancen auf einen Job ausrechnete. Ich bekam dann höchst schnell eine Stelle in Cardiff/Wales. Nach vier Jahren ging ich nach London, wo ich noch heute lebe.

EXPAT NEWS: War Großbritannien unabhängig von der Jobsituation Ihr Traumziel?

Dobrowolski: Ich hatte immer eine sehr große Affinität zu diesem Land. Als Teenager verbrachte ich viel Zeit in London, weil Freunde von mir dort Bekannte hatten, bei denen wir auch wohnen konnten. Mit 15 verliebte ich mich in Großbritannien. In meiner Jugend war ich ein Punk und England ist die Geburtsstätte der Punkbewegung. Allein deshalb interessierte mich alles, was mit dem Inselreich zu tun hatte.

EXPAT NEWS: Welche interkulturellen Unterschiede zwischen Briten und Deutschen fallen Ihnen ein?

Dobrowolski: Bemerkenswert finde ich immer wieder, wie unterschiedlich das Private in beiden Ländern gewertet wird. Die Privatsphäre und auch die Trennung von Beruf und Privatem spielt in Deutschland eine viel größere Rolle als hierzulande. Den Spruch »Das geht niemanden etwas an« hört man in Deutschland sehr viel häufiger als hier. Auch das »Siezen« schafft eine gewisse Distanz. Zwar kann man im Britischen durch andere Formulierungen ebenfalls so etwas wie das »Siezen« signalisieren, aber irgendwie sind die Briten dennoch cooler dabei. Mir fällt zudem immer wieder auf, wie sicherheitsorientiert die Deutschen sind. Möglicherweise ist es deshalb auch viel schwieriger, schnell mit Deutschen in Kontakt zu treten, weil immer eine Grundangst mitschwingt.

EXPAT NEWS: Was schätzen und was bemängeln Sie bei den Briten am meisten?

Dobrowolski: Mir gefällt sehr, wie die Briten Multikulturalität leben. Hier findet echte Integration statt. Es ist völlig normal, dass es beispielsweise viele schwarze Polizisten oder Geschäftsführer indischer Abstammung gibt. Mir scheint, als ob die Deutschen viel über Multikulturalität reden, aber sie im Alltag nicht leben. Möglicherweise liegt es daran, dass die Briten ihre Migranten nie als Gastarbeiter betrachtet haben. Dieses Wort allein verhindert ja schon die langfristige Integration.

EXPAT NEWS: Gibt es etwas, das Sie an den Briten nervt?

Dobrowolski: Mir fällt nichts Ernsthaftes ein. Im Gegenteil, eher nerven mich zunehmend die deutschen Eigenschaften. Die Briten sind irgendwie warmherziger. Richtig bewusst wurde mir das, als ich nach drei Jahren in Wales Urlaub in Deutschland machte und beobachtete, wie eine Frau an einem Imbissstand etwas zu essen bestellte – ganz kurz und knapp mit dem Satz: »Eine Bratwurst!«. Ein Brite würde immer noch etwas Herzliches hinzufügen wie »my dear«. Wenn Deutsche etwas bestellen oder Einkaufen gehen, ist es für sie etwas rein Geschäftliches und somit bleiben sie in ihrem Verhalten auch auf einer klaren, kurz angebundenen Sachebene.

EXPAT NEWS: Können Sie sich vorstellen, für immer in England zu leben oder zieht es Sie auf Dauer wieder zurück in die Heimat?

Dobrowolski: Eine Rückkehr nach Deutschland kann ich mir im Augenblick und auch in Zukunft nicht ausmalen. Ich fühle mich in diesem Land wesentlich wohler als in meiner Heimat. Damals wollte ich wirklich raus aus Deutschland. Ich habe mich beengt gefühlt, hier kann ich freier atmen. Großbritannien und ins- besondere London sind angenehm liberal und die Menschen halten viel mehr Andersartigkeit als in Deutschland aus.

EXPAT NEWS: Welche Tipps würden Sie potenziellen deutschen Auswanderern geben?

Dobrowolski: Seid weniger deutsch! Und habt keine Angst vor der Kontaktaufnahme. Niemand sollte Offenheit als ein Risiko sehen. Die Briten sind sehr hilfsbereit und interessiert. Wer sich nicht sofort ausschließlich an andere Deutsche hält, hat gute Chancen, sich schnell ein soziales Netz aufzubauen.