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»Ein Auslandseinsatz ist für eine Familie immer Teamwork«

Der Arzt Dr. Andreas Grasteit hat mit seiner Familie insgesamt neun Jahre in Nigeria gelebt und gearbeitet. Wie er und seine Frau es geschafft haben, sich dort ein Leben aufzubauen und wie sie mit interkulturellen Unterschieden umgegangen sind, erzählt er im Interview.

EXPAT NEWS: Sie waren mit Frau und Kind von 2003 bis 2012 als Arzt in Nigeria tätig. Was war damals der Grund, in dieses Land zu gehen?

Grasteit: Wir waren zu der Zeit Anfang 30, hatten unsere Ausbildung zum Facharzt abgeschlossen und über- legten, ob wir eine klassische Uni-Mediziner-Karriere machen wollten oder et- was anderes – etwas, dass uns reizvoller erschien. Zudem hatten wir eine gewisse Affinität zum Kontinent Afrika. Beide haben wir einen Teil unseres Studiums in afrikanischen Ländern absolviert und bereits berufliche Einsätze in West- und Ostafrika hinter uns. Also suchten wir bevorzugt nach Projekten in Afrika. Dass es dann Nigeria wurde, war reiner Zufall. Das Bauunternehmen Bilfinger & Berger suchte dort für ein Tochterunternehmen Ärzte für eine Mitarbeiterklinik. Uns beiden war wichtig, für eine große Organisation nach Afrika zu gehen.

EXPAT NEWS: Warum?

Grasteit: Wir wollten für eine Institution oder Firma  arbeiten, die viel Erfahrung in Afrika gesammelt und eine professionelle organisatorische und logistische Infrastruktur hat. In einem Land wie Nigeria können ausländische Unternehmen nur überleben und erfolgreich sein, wenn sie über entsprechende finanzielle Ressourcen und Kontakte verfügen. Weil wir mit unserer neugeborenen Tochter diesen Schritt gingen, wollten wir ein entsprechendes Backup. Diesen Ansatz halten wir auch im Nachhinein für richtig. Mehrfach sind uns hilflose Helfer begegnet, die für kleine Organisationen arbeiteten und mit der Realität vor Ort haderten. Projekte von kleinen Unternehmen sind oft wenig vororganisiert und  es werden für die Mitarbeiter hohe persönliche Risiken in Kauf genommen.

EXPAT NEWS: Ihre damalige Firma hat also eine eigene Klinik für die Mitarbeiter in Nigeria, für die Sie tätig waren?

Grasteit: Ja, ich habe die medizinische Versorgung der Firma geleitet. Dort habe ich mit Kollegen neben den Expatriates vor allem die lokalen Mitarbeiter und deren Familien behandelt. Es gehört in Nigeria dazu, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern gute medizinische Versorgung gewährleisten. Das ist Teil des Job-Paketes. Nigeria hat durchaus einige gute Krankenhäuser und Ärzte in den Wirtschaftszentren. Die Behandlung ist aber mitunter kostspielig und bei weitem nicht für jeden Arbeitnehmer erschwinglich. In der Provinz ist die Ge- sundheitsversorgung wiederum schwierig. Als Arbeitgeber in Nigeria sind Sie für Ihre Mitarbeiter und –  Betonung auf »und« – deren Familienangehörige verantwortlich.

EXPAT NEWS: Wie hat das Umfeld von Ihnen und Ihrer Frau damals reagiert?

Fotolia_47420521_XSGrasteit: Sehr unterschiedlich. Es gab überraschte Nachfragen wo wir hingen: Libera? Namibia ? Nicaragua ? Entsprechende Zeitungsausschnitte beziehungsweise Online-Nachrichten beka- men wir zugeschickt. Andere Menschen waren etwas besorgt, akzeptierten aber unsere Entscheidung. Es gab jedoch auch Ablehnung.

EXPAT NEWS: Wie erging es Ihnen in der Anfangszeit? Hatten Sie einen Kulturschock und wenn ja, wie haben Sie dem entgegengewirkt?

Grasteit: Nein, den hatten wir nicht. Wir kannten Teile Afrikas bereits und wussten worauf wir uns einließen. Das vorherrschende Gefühl der ersten Monate war Entdeckerfreude.

Die neue exotische Welt zog uns in Ihren Bann und lies uns auf einer geradezu euphorischen Welle reiten. Nach einigen Monaten holte uns die Realität mit den Banalitäten und gelegentlichen Ärgernissen des Alltags ein. Wir hatten uns vorher ein internes Zeitfenster, eine Art Probezeit zurechtgelegt. Mein Vertrag lief zwar länger, aber wir entschieden, dass wir uns mindestens 12 Monate Probezeit geben würden. Sollte es uns danach gar nicht gefallen, würden wir nach dieser Zeit abbrechen und nach Deutschland zurückkehren. Wir haben beispielsweise unsere Wohnung in Hamburg behalten, um bei einer Rückkehr einen sicheren Hort zu haben.

EXPAT NEWS: Wie lange hat es gedauert, bis Sie und Ihre Frau sich in Nigeria eingelebt hatten?

Grasteit: Bis wir uns ein geregeltes Leben mit einem sozialen Umfeld aufgebaut hatten, verging etwa ein Jahr. Die ersten Bekanntschaften entwickelten sich naturgemäß im internationalen Kollegenkreis und vor allem durch unsere Tochter. Da gab es Babygruppen und später einen internationalen Kindergarten. Darüber lernten wir andere Elternpaare kennen und schlossen Freundschaften. Unser Freundeskreis hat sich immer wieder erneuert, da viele Familien im Schnitt nur rund drei Jahre blieben. Einheimische Bekannte hatten wir wenige. In Nigeria ist die Mittelschicht gering ausgeprägt. Es gibt überwiegend arme und wenige sehr reiche Einwohner. Die sozialen und kulturellen Sprünge sind sehr groß, was es schwierig macht, Nigerianer entspannt und privat kennen zu lernen.

EXPAT NEWS: Ihre Frau ist auch Ärztin. Hat Sie in Nigeria ebenfalls weiter praktiziert?

Grasteit: Der Zeitpunkt, ins Ausland zu gehen, war von uns bewusst gewählt, da meine Frau im Mutterschutz war. Nach gut einem Jahr, als unser neues Zuhause aufgebaut und das Organisatorische weniger wurde, bekam sie wieder Interesse als Ärztin zu arbeiten, was sie dann auch tat. Sie war als Ärztin für verschiedene bilaterale Organisationen tätig. Ein Umzug ins Ausland ist für eine Familie immer Teamwork. Es ist wichtig, dass auch der mitausreisende Partner die Chance hat, sich in das Land zu integrieren und gegebenenfalls seiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Nur in den seltensten Fällen funktioniert es, dass beide zeitgleich beruflich durchstarten und nebenbei das neue Zuhause geregelt bekommen. Haus und Hof müssen anfangs organisiert und etabliert werden. Der Alltag in Afrika ist bedeutend mühsamer und umständlicher. Auch wenn man in Afrika als Expat oft über den Luxus von persönlichen Mitarbeitern verfügt, so müssen diese in den Haushalt und Alltag integriert und betreut werden.

EXPAT NEWS: Wie war es für Ihre Tochter, in Afrika aufzuwachsen.

Manche Firmen schicken bewusst Familien ins Ausland. Tatsächlich brechen viele Single-Expats ihre Auslandsentsendung früher ab. Familien bleiben etwa doppelt so lange im Ausland. Als Familie ist man ausgeglichener und neigt weniger zu emotionalen Kurzschlusshand- lungen.

EXPAT NEWS: Wie war es für Ihre Tochter, in Afrika aufzuwachsen?

Grasteit: Es mag Sie überraschen, aber Afrika ist für Kinder ein großartiger Ort. Unsere Tochter hatte eine recht idyllische Kindheit. Das Klima ist entspannt, es ist immer warm, ständig T-Shirt, Shorts und Flip-Flops. Die Natur ist atemberaubend und wir haben natürlich viele Reisen und Ausflüge unternommen. Wir hatte wunderbare Naturerlebnisse, haben auf unzähligen Safaris im Busch übernachtet und viele besondere Eindrücke mitgenommen.

EXPAT NEWS: Welche eklatanten interkulturellen Unterschiede haben Sie wahrgenommen und was haben Sie getan, um diese zu überwinden beziehungsweise zu tolerieren?

elefanten, namibiaGrasteit: Aufgrund unserer vorherigen Afrika-Erfahrungen waren uns diese Unterschiede bereits bewusst und wir haben uns darauf eingestellt. Unsere »deutsche Brille« haben wir gleich zu Beginn versucht, abzunehmen. Wir wussten, dass wir unser europäisch geprägtes Wertesystem verließen und unsere Perspektive auf die Welt hinter- fragen mussten. Sie können keinen neuen Kulturkreis betreten und davon ausgehen, dass die eigenen tradierten Wertvorstellungen universell gelten. Kulturelle Identität entsteht aufgrund von Erfahrungen, die jedes Volk, jedes Land in seiner eigenen Geschichte entwickelt. Das hat Auswirkungen auf die Einstellungen zu politischen Ereignissen, verschiedenen Gesellschaftssystemen und auf das Verhalten der Menschen im Allgemeinen.

Im Berufsleben ist ein gravierender Unterschied, dass Gesetze oder auch Verträge – unterschriebene – nicht abge- schlossen, sondern ein offener Prozess sind. Sie befinden sich faktisch in ständiger Entwicklung und Auslegung. Abmachungen etwa sind immer an eine Person und nicht an die Institution gebunden. Wechselt ein Ansprechpartner, mit dem man etwas ausgehandelt hat, starten Verhandlungen meist erneut von vorne – mit dem neuen Ansprechpartner. Die Dinge funktionieren dennoch, aber auf eine andere Weise, in anderen Wegen der Entscheidungsfindung und in einem anderen Zeitfenster als wie wir es gewohnt sind. Das zu berücksichtigen, ist bei allen Aktivitäten wichtig.

Sie finden auch den » Ehrlichen Kaufmann« auf dem Wochenmarkt. Dort ist es beispielsweise auch möglich, fehlerhafte Produkte ohne schriftliche Vertragsgrundlage umzutauschen.

EXPAT NEWS: Wie war der Alltag mit den lokalen Mitarbeitern?

Grasteit: Die Zusammenarbeit war in der Regel recht interessant, aber es ist ein anderer Umgang als in Deutschland. Westafrikanische Mitarbeiter haben oft einen sehr starken Bezug zu Ihren Vorgesetzten und erwarten, dass dieser eine patriarchalische Führungsrolle übernimmt. Als Führungskraft haben Sie eine große Verantwortung für das Leben der Mitarbeiter und auch ihrer Familien. Glück und Freude werden auf den »Master« projiziert, aber man wird auch für alles persönliche Unglück der Welt in Haftung genommen – und soll dieses für die Mitarbeiter »richten«. Es ist die Pflicht des Arbeitgebers, sich um die Arbeitnehmer und deren Angehörigen zu kümmern und betrifft weite Bereiche der Gesundheit, Bildung, Wohnen und Verkehr sowie persönliche Probleme. Im Gegenzug erhält die Firma eine hohe Motivation und Loyalität.

EXPAT NEWS: Was raten Sie potenziellen Expats oder Auswanderern, die es nach Westafrika zieht, um sich einen holprigen Start zu ersparen?

Grasteit: Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die Menschen, die in diese Region gehen, Afrika häufig bereits kennen und ungefähr wissen, was sie erwartet. Ein mühsamer Weg ist es, die Welt zu retten oder helfen zu wollen. Diese Menschen haben es oft schwer in Nigeria. Es ist sicher hilfreich, die deutsche Perspektive zu verlassen, viel zuzuhören und sich zurückzunehmen. Niemand sollte zudem erwarten, dass die in Deutschland erworbene Fachkompetenz ohne Adaptationen auf die Infrastruktur in Afrika anzuwenden ist. Man muss die Toleranz entwickeln, seine Ziele auch mit geringeren Mitteln und weniger Möglichkeiten zu erreichen und hinterfragen, ob man auf dem richtigen Weg ist. Ohnehin ist es gut, sich vorab die Frage zu stellen, was man in Afrika überhaupt erreichen will und ob und wie die Projekte mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen umzusetzen sind.

Besonders wichtig ist es zudem, sich vorher mit der Sicherheit im Land vertraut zu machen – sich zu informieren. Wir haben hier wiederholt große Sorglosigkeit beobachtet. Hinsichtlich der Krankenversorgung beispielsweise muss unbedingt gewährleistet sein, dass man einen verlässlichen Ansprechpartner direkt vor Ort hat. Außerdem sollten Expats sich regelmäßig mit dem worst case einer politischen, gesellschaftlichen oder gesundheitlichen Eskalation auseinandersetzen. Klare, überprüfte Entscheidungspläne für »den Fall der Fälle« sind wichtig. Dazu gehört beispielsweise, regelmäßig die Wege zur Botschaft oder zum Krankenhaus zu fahren und den Kontakt mit dem Personal dort zu halten. Im dynamischen Afrika können sich binnen weniger Tage komplette Straßenzüge verändern oder Straßen umgeleitet werden.

EXPAT NEWS: Warum sind Sie nach neun Jahren nach Deutschland zurückgekehrt?

Fotolia_39989919_XSGrasteit: Die besondere berufliche Erfahrung und Exotik vor Ort wird mit den Jahren Alltag. Wir wollten wieder deutsche High-End-Medizin machen und auch unserer Tochter einen weiteren Horizont an Möglichkeiten bieten. Hinzu kam, dass sich die Sicherheitslage in dem letzten Aufenthaltsjahr verschlechtert hatte. Im Norden und im Süden nehmen die Entführungen von Ausländern zu. Länder und Regionen, die wir vor kurzem als Familie problemlos bereisen konnten, sind zur Zeit Krisen- oder Konfliktgebiete.

EXPAT NEWS: Wie haben Sie Ihre Rückkehr nach Deutschland erlebt?

Grasteit: Meine Frau und ich haben uns sehr auf Deutschland gefreut und uns erstaunlich schnell eingelebt. Natürlich vermissen wir einiges. Das tropische Klima war mehr als nur warm – es ist ein Lebensgefühl. Die üppige bunte Natur fehlt uns ebenfalls. Für unsere Tochter ist die Umstellung besonders groß und der Beginn war ziemlich hart. Aber inzwischen gewöhnt sie sich an das Leben in Deutschland und hat mit Begeisterung den ersten Schnee ihres Lebens erlebt.

Was ich als sehr angenehm empfinde, ist die Verbindlichkeit der Menschen hierzulande. Es ist gut, sich auf Dinge verlassen zu können. Da nimmt man auch mal die gewisse Engstirnigkeit der Deutschen in Kauf. Wir haben durch unsere Zeit in Nigeria ohnehin eine großzügigere Einstellung dazu gewonnen und sehen vieles weniger verbissen als früher.

Dr. Andreas Grasteit:

•    ist Arzt in Lübeck und berät Firmen und Institutionen in gesundheitlichen Fragen der Mitarbeiterentsendung.
•    Kontakt: info@dr-grasteit.de
•    Web: www.dr-grasteit.de