Ankunft im Ausland: Tipps gegen Vorurteile
In fast jedem Entsendungsseminar höre ich von meinen zukünftigen Expats die Aussage: „Vorurteile??? So’n Quatsch. Ich hab’ doch keine Vorurteile!“. Oder zumindest so was in der Art… Ich denke, das ist wohl normal, denn kein Mensch hat ja gerne Vorurteile. Und noch weniger diejenigen, die sich entschieden haben, freiwillig ein paar wertvolle Lebensjahre im Ausland zu verbringen. Oder? Viele Menschen, die sich für das „Abenteuer Fremde“ entscheiden, tun dies um sich persönlich und beruflich weiterzuentwickeln. Sie sind offen, tolerant und interessiert. Und dennoch: der Weg ins Ausland kann aufgrund vorgeprägter Meinungen und Annahmen schnell zu einer Negativerfahrung werden.
Starten wir doch mal mit einer klaren Abgrenzung: Im interkulturellen Bereich gibt es in diesem Zusammenhang vier große Begriffe: das Stereotyp, das Klischee, das Vorurteil und die Diskriminierung. Hier eine kurze Differenzierung:
Ein Stereotyp bezeichnet eine vereinfachende, schematisierende Sichtweise auf die Aspekte der sozialen Welt, also auf Personen und Situationen. Sagen wir: ein Cluster. Die Bildung dieser Cluster durch unser Gehirn dient dazu, die komplexe Umwelt zu vereinfachen und garantiert uns, dass wir trotz enormer Informationsflut, die unser Gehirn sekündlich zu verarbeiten hat, handlungsfähig bleiben. Hätten wir keine Stereotype, nach denen wir Informationen systematisch kategorisieren, wäre unser „Betriebssystem“ innerhalb von Sekunden überlastet. Und das wäre ja nicht so gut.
Insbesondere, wenn wir uns in unbekannten Situationen befinden, wie zum Beispiel in einer fremden Kultur, helfen uns diese Verallgemeinerungen, fremdartiges Verhalten irgendwie einzuordnen. Ein Stereotyp für das unterschiedliche Zeitempfinden von Kulturen wäre beispielsweise: „Die deutsche Kultur legt grundsätzlich großen Wert auf die Einhaltung von Plänen und Deadlines. Für die französische Kultur hingegen ist das soziale Miteinander beziehungsweise die Beziehungspflege tendenziell wichtiger.“ Nachteil dieser vereinfachten Annahmen ist logischerweise, dass sie die Welt nicht sonderlich differenziert betrachten. Stereotype sind kognitiv, das heißt, sie können und sollten immer am Einzelfall überprüft und dann ergänzt beziehungsweise modifiziert werden. Ansonsten drohen Vorurteile.
Ein Vorurteil ist – wie der Name schon sagt– ein Urteil, das man im Vorab trifft. Und zwar, ohne es anhand persönlicher Erfahrung auf seine Richtigkeit überprüft zu haben (präventiv sozusagen ;-)). Im Gegensatz zu Stereotypen sind Vorurteile affektiv, das heißt, sie sind emotional bereits mit irgendeiner Art Wertung (besser/schlechter als…) versehen. Diese Bewertung kann zwar auch positiv ausfallen, ist jedoch gerade im interkulturellen Kontext überwiegend negativ – also abwertend -gemeint. Übrigens: die Steigerungsform ist Diskriminierung. Diesem Thema soll aber an dieser Stelle keine weitere Beachtung geschenkt werden, da es sich um eine Sonderform handelt.
Auf den interkulturellen Kontext bezogen, bezeichnet ein Vorurteil also eine feststehende Annahme in Bezug auf die Eigenschaften beziehungsweise Verhaltensweisen einer fremden Kultur. Wenn wir wieder unser oben genanntes Beispiel nehmen, dann wäre das entsprechende Vorurteil: „Franzosen sind unzuverlässig. Deutsche sind unflexibel.“
Bei einem Klischee handelt es sich um ein übertriebenes Sprachbild oder eine Redensart, die einer Karikatur ähnlich ist. Sie sind dem Stereotyp relativ ähnlich und werden umgangssprachlich etwas häufiger benutzt. In der interkulturellen Kommunikation (und folglich auch in diesem Artikel) spielen sie aber keine größere Rolle, da ihre Aufgabe nur darin besteht, vermeintlich kulturellen Besonderheiten ein übertypisiertes Gesicht zu geben. Hier gibt’s ein phantastisches Beispiel für Klischees. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, könnte das entstandene Klischee so aussehen, dass der Franzose lieber entspannt mit einem Kollegen beim Lunch sitzt, während der Deutsche schon ganz ungeduldig auf und ab läuft, weil er die Deadline fliegen sieht.
Konzentrieren wir uns aber lieber auf Stereotyp & Vorurteil, hier noch einmal die Gegenüberstellung:
Stereotype sind gut – Vorurteile sind böse
Wir alle brauchen gewisse Orientierungshilfen und Vereinfachungen um funktionieren zu können. Hätten wir keine Stereotype, würde unser Betriebssystem ständig „Error“ anzeigen und wir wären keine fünf Minuten überlebensfähig. Wenn wir uns dann in einem Umfeld befinden, in dem pausenlos Eindrücke auf uns einströmen, die uns so gar nicht vertraut sind, greifen wir besonders häufig auf Stereotypen zurück. Punkt. Schön wäre jetzt, wenn man hier einen fetten Schlussstrich ziehen würde und es bei einer „wertfreien Einordnung der fremdartigen Umwelt als Orientierungshilfe“ belassen könnte. Kann man aber nicht!
Wie sich Stereotype unbemerkt in Vorurteile verwandeln
Zu Beginn einer Auslanderfahrung oder wenn man über keine oder wenig interkulturelle Erfahrung verfügt, ist die eigene Kultur der einzige Bezugspunkt und Bewertungsmaßstab, der einem zur Verfügung steht. Deshalb betrachten wir in einem neuen Umfeld die Dinge naturgemäß zunächst auf der Basis uns bekannter Werte und Normen.
Und – wir sind evolutionsbedingt Fremden gegenüber enorm misstrauisch. Deshalb werden fremdartige und unerklärbare Verhaltensweisen zunächst einmal als “nicht nachvollziehbar“ abgewertet. Die Kulturwissenschaft nennt dieses Phänomen Ethnozentrismus. Der Soziologe Dr. Milton J. Bennet – den ich kürzlich selbst live und in Farbe erleben durfte – hat hierzu ein interessantes Modell entwickelt. Sein DMIS (Development Model of Intercultural Sensitivity) beschreibt den Verlauf interkulturellen Erlebens von einer ethnozentrischen Wahrnehmung hin zu einer ethnorelativen Sichtweise sehr anschaulich. Also: selbst wenn wir alles Menschenmögliche tun, um nicht in die Vorurteilsfalle zu tappen, ist eine wertfreie Beurteilung praktisch ausgeschlossen. In dem Moment in dem wir wahrnehmen, haben wir bereits (wenn auch vielleicht unbewusst) eine Wertung getroffen – und nicht selten eine negative.
„Es ist leichter ein Atom zu spalten, als ein Vorurteil.“
Albert Einstein behauptete: „Es ist leichter ein Atom zu spalten, als ein Vorurteil“. Und er hatte recht: In einem Experiment der University of Toronto konnte nachgewiesen werden, dass wir überwiegend die Dinge wahrnehmen, die unsere Vorannahmen bestätigen. Widersprüchliche Informationen, die unsere Vorurteile über eine bestimmte Person oder Sache wiederlegen würden, blenden wir ganz großzügig aus. Wenn wir also nur das sehen, was wir aufgrund unserer Vorurteile erwarten zu sehen, dann werden genau diese Erwartungen für uns auch zur Realität.
Und genau das ist der Grund dafür, dass sich unsere Vorurteile immer und immer wieder als so genannte Self-Fulfilling Prophecy (kein Spruch, sondern ein wissenschaftlich anerkanntes Phänomen) bestätigen. So ganz nach dem Motto: „Hab ich’s doch gewusst“.
Lass dir von Vorurteilen nicht die Erfahrung vermiesen!
Stereotype als wertfreie Verallgemeinerungen helfen dir, dich im Ausland zu orientieren, ungewohnte Situationen einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Sie bieten dir eine mögliche – wenn auch sehr grobmaschige – Erklärung für fremdes Verhalten. Die Wissenschaft ist sich darüber einig, dass es weder möglich noch überhaupt sinnvoll ist, die mentalen Mechanismen der Stereotypenbildung zu durchbrechen. Nichts desto trotz, können Vorurteile uns unsere Auslandserfahrung ganz schön vermiesen, wenn wir sie nicht als solche erkennen und unschädlich machen. Um deine Auslandszeit maximal genießen zu können und nicht in die Vorurteilsfalle zu tappen, hier ein paar praktische Tipps am Ende dieses (ja, ich weiß ;-)) etwas theoretischen Artikels:
1. Hinterfrage dich immer wieder, ob du dich gerade einer wertfreien Typisierung bedienst, oder ob sich in deine Beobachtung schon eine Bewertung eingeschlichen hat!
2. Wenn du feststellst, dass du eigentlich schon auf ein noch so winziges Vorurteil zurückgegriffen hast und deine Einschätzung doch nicht ganz wertfrei ist, gehe einen Schritt zurück!
3. Finde heraus, wie diese Bewertung zustande gekommen ist und auf welchen persönlichen und kulturellen Annahmen oder Einschätzungen sie beruht!
4. Hinterfrage deine (Vor)urteile! Finde heraus, welche Annahmen du hast, was zu diesen Meinungen geführt hat und inwiefern sie dein Verhalten dieser Kultur gegenüber beeinflussen?
5. Geh raus und sammle Beispiele gegen deine Vorurteile!
Der Rest ist die immer wiederkehrende Geschichte interkulturellen Lernens. Sei offen und neugierig. Sei aufmerksam und empathisch. Sei positiv und flexibel.
Die Autorin:
Constance Grunewald-Petschke betreibt den Blog www.what-about-my-pencilskirt.com, auf dem sie regelmäßig über ihr neues Leben als Expat-Partner in Istanbul berichtet. Sie ist außerdem Inhaberin der Agentur „Abroad [relocation.interculture.language]“, die Expats und ihre Familien berät.
E-Mail: c.grunewald@xpat-abroad.com
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